Genozide verhindern

Marcel Bohnert

Der Völkermord in Ruanda 1994 und das ebenfalls juristisch als Völkermord anerkannte Massaker in Srebrenica unter den Augen der United Nations (UN) haben zu einem Paradigmenwechsel im Umgang mit Genoziden beigetragen. Die Internationale Staatengemeinschaft setzt zunehmend auf Abschreckung und Prävention, um zukünftige Völkermorde verhindern zu können. Als Beispiel sind die ad hoc-Strafgerichtshöfe für Ruanda, Jugoslawien und Sierra Leone zu nennen, die neben Wiedergutmachung (Restauration) und Versöhnung (Reconciliation) vor allem das Ziel der sichtbaren Bestrafung (Retribution) verfolgen und damit einen Beitrag zur Abschreckung von Tätern liefern. Nur die klare Botschaft, dass Genozid juristische Konsequenzen für Genocidáires aller Ebenen haben wird, kann einen vorbeugenden Effekt erzielen. Der seit 2003 etablierte Sonderbeauftragte der UN für die Prävention von Völkermord hat direktes Berichtsrecht vor dem UN-Sicherheitsrat und damit ebenfalls eine wichtige Funktion für die Verhinderung zukünftiger Völkermorde. Inzwischen gibt es zudem eine hohe Zahl zivilgesellschaftlicher Initiativen und Beobachtungsnetzwerke, deren Ziele vor allem in der Aufklärungs- und Informationsarbeit liegen. Diese teilweise durch Prominente unterstützten "Wächterorganisationen" kämpfen gegen das allgemeine Unwissen in Bezug auf Genozide, welches für sich betrachtet bereits einen begünstigenden Faktor für dessen Entstehung darstellt. Der Wert der Weiterverbreitung von Wissen und das Herstellen von Öffentlichkeit sind in ihrer Wichtigkeit nicht zu unterschätzende Beiträge zur Genozidprävention. Dass das hierdurch erzwungene Agendasetting nachhaltige Wirkung entfalten kann, zeigt bspw. der zusehns in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit dringende "Holodomor" (Hungerholocaust), bei dem in den Jahren 1932/1933 zwischen 3 und 15 Millionen Ukrainer systematisch ausgehungert wurden und starben.

Die unmissverständliche Entschlossenheit der Internationalen Staatengemeinschaft zum Eingreifen bei Genoziden stellt das wahrscheinlich wirksamste Mittel zur Völkermordprävention dar. Sowohl der damalige UNAMIR(United Nations Assistance Mission for Rwanda)-Kommandeur Roméo Dallaire als auch der ehemalige UN-Generalssekretär Kofi Annan haben nach den Ereignissen des Jahres 1994 die Aufstellung einer eigenen, permanenten UN-Truppe gefordert. Ein solcher Verband könnte das Dilemma der mangelnden Bereitschaft von UN-Mitgliedstaaten zur Entsendung und entsprechender Ausrüstung ihrer Soldaten lösen. Im Falle einer Konflikteskalation und des Scheiterns diplomatischer Bemühungen kann ein frühzeitiges Entwaffnen potentieller Genocidáires Schlimmeres verhindern und zudem die Glaubwürdigkeit der Internationalen Staatengemeinschaft bzw. der UN erhöhen. In einer drastischen Forderung plädiert Goldhagen (2009) darüber hinaus für die Aussetzung von Kopfprämien auf Völkermörder.

Die Genozidforschung hat inzwischen eine Reihe von Indikatoren für angehende Genozide hervorgebracht. Zu begünstigenden Faktoren zählen bspw. politische Umbrüche in Gesellschaften mit traditioneller ethnischer Stratifizierung und einer darin begründeten Konflikttradition. Feierstein (2012) hat den Prozess von Genoziden in einem theoretischen Modell als aufeinanderfolgende Stadien sozialer Praktiken beschrieben: Einer (a) Stigmatisierung der Opfer, die noch auf symbolischer und verbaler Ebene stattfindet, folgt die (b) Drangsalierung der jeweiligen Gruppe, die mit Schuldzuweisungen und eine durch Propaganda vertiefte Stigmatisierung einhergeht. In der darauffolgenden Phase der (c) Isolierung wird die Opfergruppe vollständig ausgegrenzt und bspw. in Ghettos oder Konzentrationslagern gesperrt. In dieser Phase ist Völkermord ohne externes Eingreifen bereits nicht mehr zu verhindern. Es folgen noch die Phasen der (d) systematischen Schwächung, der (e) Vernichtung und schließlich die (f) Vernichtung der feindlichen Symbolkultur, einhergehend mit der Etablierung einer eigenen Erinnerungskultur und Legendenbildung. Diese Grundsätze kennend sind Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit gefordert, stets sensibel auf die in diesem Modell beschriebenen Entwicklungen im internationalen Kontext zu reagieren. Das Analysemodell gründet auf einer Untersuchung in Bezug auf den Holocaust, ist allerdings modifizierbar und in andere Kontexte adaptierbar. Der Genozid in Ruanda zeigt bspw., dass die Stufe (c) Isolierung "übersprungen" wurde und die Vernichtung von Tutsi und moderaten Hutu direkt ihrer verschärften Stigmatisierung und Drangsalierung folgte. In den ersten Modellphasen deutlich werdende Warnsignale wie schwere Menschenrechtsverletzungen oder die Zunahme von Massakern müssen frühzeitig erkannt werden. Gerade Gesellschaften, in denen bereits ein Genozid vollzogen wurde, sind auf kultureller Ebene oft labil und daher anfällig für Nachfolgegenozide. Die gewaltfreie ethnische Entstratifizierung und die Stärkung sowie der Schutz gemäßigter Vertreter aller Lager können durch die Internationale Staatengemeinschaft unterstützt werden und damit zu einer Abmilderung des Risikos einer erneuten Eskalation beitragen (vgl. Fein, 1999).

Die hohe Opferzahl, die massenhafte Beteiligung der Mehrheitsgesellschaft an Tötungen, das Fortwirken von Eliten, die örtliche Nähe von Tätern und Überlebenden sowie die kollektive Traumatisierung postgenozidärer Gesellschaften stellen sich als enorme Herausforderung für eine Versöhnung dar. Soziale Versöhnung (vgl. Simon, 2012) erhebt durch die Forderung der Akzeptanz gemeinsamer Regierungsinstitutionen in einem Staat durch alle Teile der Gesellschaft einen bescheidenen, aber gegenüber einer vollkommenen Versöhnung realistischeren Anspruch. Eine Politik der Aussöhnung ist für den Weiterbestand der Gesellschaft unerlässlich. In Ruanda gibt es zahlreiche Gedenkstätten, Aussöhnungskonferenzen und einen nationalen Gedenktag, um den Prozess auf formaler Ebene voranzutreiben.

Quellen

Feierstein (2012): (http://www.youtube.com/watch?v=0-v-5RTt3CQ); Fein (1999); Goldhagen (2009); Simon (2012)

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Bohnert, M. (2014). Genozide verhindern. Addendum zu "Zum Umgang mit belasteter Vergangenheit im postgenozidalen Ruanda" [Download: http://www.genozid-in-ruanda.wg.am/addendum__2014_/ ].

 

 

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